
Berliner Kinder werden durchschnittlich mit fünfeinhalb Jahren eingeschult, weil es das Schulgesetz so vorsieht. In der Schuleingangsphase werden die Schulanfänger meistens in Jahrgangsübergreifenden Lerngruppen zusammengefasst und sollen von Anfang an selbständig Arbeiten und ihren individuell erstellten Wochenplan erfüllen.
Manche Kinder neigen dazu lieber aus dem Fenster zu sehen oder sich anzumalen. Sie langweilen sich, weil sie überfordert oder unterfordert sind und schweifen verträumt in ihre Fantasie ab. Für solche Kinder sieht das Berliner Schulsystem das Verweilen in der Schuleingangsphase vor, also die Wiederholung der ersten oder zweiten Klasse, vielleicht um ihnen mehr Zeit zum Träumen zu lassen …
Störungen des Schriftspracherwerbs und Rechenstörungen können früh dazu führen, dass Schüler das Lernen aufgeben und sich zurückziehen. Es werden oft geschickte Strategien zur Vermeidung der Angst auslösenden Lernsituationen ausgebildet.
Vom wissenschaftlichen Standpunkt her sollten Alarmzeichen, wie anhaltende Schulunlust, aggressive Abwehr von Leseübungen, häufige Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen dringend zügig testpsychologisch überprüft werden, und falls eine Störung schulischer Fertigkeiten, also das Vorliegen einer deutich unterdurchschnittlichen Lese-, Rechtschreib- oder Rechenfertigkeit bei gleichzeitig normaler Intelligenz, diagnostiziert wird sollten therapeutische Massnahmen eingeleitet werden.
Konzentrationsprobleme, störendes Verhalten im Unterricht, Wutanfälle oder körperliche Auseinandersetzungen von Schulanfängern sind häufige Auswirkungen der Überforderung durch unentdeckte Leistungsstörungen.
Leider werden beginnende schulische Teilleistungsstörungen durch die ‘Strategie des sich Zeit lassens’ meistens nicht besser. Auch wenn ein Verweiljahr eingelegt wurde, irgendwann kommt jeder Schüler in die dritte Klasse, ab dann gibt es meistens Noten. Unsportliche Schüler bekommen dann ihre ersten Fünfen oder Sechsen in Sport, der ihnen dann gar keinen Spass mehr macht, obwohl es gerade für sie besonders wichtig wäre zum Sport treiben motiviert zu werden. Auch im Kunstunterricht oder im Musikunterricht unterricht können sich Kinder mit feinmotorischen Schwierigkeiten oder mangelnder Musikalität schlechte Noten abholen, was völlig kontraproduktiv ist, weil doch gerade diese Fächer dazu dienen könnten die Freude am Schulbesuch zu stärken.
Etwa ab der fünften Klasse, mit ca. 10 Jahren, wissen alle Kinder wie wichtig die Noten für die weitere Schullaufbahn sind und können ihr Leistungsvermögen einschätzen. Bei, durch Teilleistungsprobleme oder einfach durch verpassten grundlegenden Stoffe wegen Unterrichtsausfällen verursachten Unsicherheiten können Leistungsversagensängste entstehen und zusätzliche Schwierigkeiten verursachen. Im schlimmsten Fall kommt es zu schuldistanzierten Verhalten, wenn die Kinder sich nicht mehr dazu motivieren lassen weiter die Schule zu besuchen. Den Eltern droht dann eine Schulversäumnisanzeige mit vierstelligem Bussgeld und das Jugendamt mit ‘sozialen Gruppen’.
Das Berliner Schulsystem bietet vielerlei Fallstricke und Insuffizienzen, denen Schüler zum Opfer fallen können. Um beginnende Schulprobleme nicht zum Schulversagen werden zu lassen ist es wichtig früh genug erfahrene und unabhängige prpfessionelle Hilfe zu finden. Durch psychometrische Untersuchungen können die Zusammenhänge und Ursachen der Schwierigkeiten benannt werden. Eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung kann Kindern sowohl dabei helfen ihre Ängste zu erkennen und besser in den Griff zu bekommen, als auch dabei unterstützen eine gute Leistungsmotivation zu finden. In einem multiprofessionellen kinderpsychologischen Team mit fachärztlicher Kompetenz können überdies hilfreiche Übungsbehandlungen wie Logopädie, Ergotherapie oder Lerntherapie angeregt oder unterstützende Medikamente verordnet werden.
Der Autor dieses Artikels – Peter Dirscherl ist Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie.